Basics: Ideal für alle, die sich einen Überblick verschaffen möchten oder neu im Thema sind. |
In der Tragwerksplanung von Holzbauten sollten Statiker dem Aussteifungssystem mindestens genauso viel Aufmerksamkeit widmen wie dem vertikalen Lastabtrag.
In diesem Beitrag erklären wir dir die grundlegenden Prinzipien der Aussteifung und zeigen dir, wie du die Belastung auf Decken- und Wandscheiben bestimmen kannst. Wir behandeln die Ermittlung der einwirkenden horizontalen Lasten bei Gebäuden in Holzbauweise unter Windbeanspruchung, wobei die Prinzipien sowohl für die Holztafelbauweise als auch die Massivholzbauweise anwendbar sind.
Wie wird die Aussteifung eines Holz-Gebäudes sichergestellt?
Das Aussteifungssystem eines Gebäudes sorgt dafür, dass es unter horizontaler Last, wie etwa durch Wind oder Erdbeben, stabil bleibt und nicht wie ein Kartenhaus zusammenfällt. Um die Aussteifung eines Holzgebäudes zu gewährleisten, müssen bestimmte Mindestanforderungen eingehalten werden:
Es müssen mindestens vier Wände vorhanden sein, die sich nicht in einem Punkt schneiden.
Alternativ können auch mindestens drei Wände vorhanden sein, die sich nicht in einem Punkt schneiden, wenn zusätzlich eine steife Deckenscheibe eingebaut wird, wie grafisch in Bild 1 dargestellt ist.
Bild 1: Notwendige Bedingung für die Aussteifung eines Gebäudes aus Holz nach [1]
Zum Aussteifungssystem bei Gebäuden aus Holz gehören demnach eine Dach- oder Deckenscheibe sowie Wandscheiben. Die angeströmte Außenwand überträgt die Windlast an die Deckenscheibe, welche die Last in das Wandrähm einleitet und damit auf die darunterstehenden Wände verteilt. Da der Lasteintrag in die Wände über die Deckenscheibe erfolgt, ist es entscheidend, die Deckenscheibe kraftschlüssig mit den darunterliegenden Wänden zu verbinden. Wichtig zu beachten ist, dass nur die Wände, die parallel zur Windanströmrichtung stehen, zur Lastabtragung beitragen, wie du Bild 2 entnehmen kannst. Die Wände, welche senkrecht zur Windrichtung stehen, sind am Wandfuß nicht eingespannt und würde unter horizontaler Last kippen.
Bild 2: Aussteifende Wandscheiben in Abhängigkeit der Windrichtung
Wie groß ist die Belastung auf die Decken- und Wandscheiben?
Wie bereits beschrieben, nimmt die Dach- bzw. Deckenscheibe die Last aus der angeströmten Außenwand auf. Die Einzugsfläche für die Deckenscheibe entspricht dabei der Wandlänge und der halben Wandhöhe, der darüber- und darunterstehenden Wand, woraus eine Streckenlast resultiert, die zur Bemessung der Deckenscheibe herangezogen wird. Die Lasteinzugsfläche für die Deckenscheiben ist in Bild 3 dargestellt.
Die Wandscheiben tragen die Summe der Lasten aus Dach- und Deckenscheibe in das Fundament ab. Für die Wandscheiben im obersten Geschoss ergibt sich die gleiche Einzugsfläche wie für die Dachscheibe. In den darunterliegenden Geschossen müssen die Wandscheiben jedoch zusätzlich die Windlasten aus den darüberliegenden Geschossen aufnehmen. Dadurch erhöht sich die Einzugsfläche für jede darunterliegende Wandscheibe, was zu einer entsprechend größeren Last führt. Die Lasteinzugsflächen für Wandscheiben sind in Bild 4 dargestellt.
Bild 3: Lasteinzugsfläche für Dach- und Deckenscheiben nach [2]
Bild 4: Lasteinzugsfläche für Wandscheiben nach [2]
Welche Wände sollten für den horizontalen Lastabtrag herangezogen werden?
Nicht alle Wände müssen zum Abtrag der horizontalen Lasten herangezogen werden. Mit Blick auf mögliche zukünftige Nutzungsänderungen kann es beispielsweise sinnvoll sein, Innenwände nicht in das Aussteifungssystem einzubeziehen. Aus statischer Sicht können Innenwände vorteilhaft sein, da diese je nach gewählter Verankerung höhere Lasten in die Bodenplatte einleiten können und in der Regel doppelt beplankt werden. Allerdings wird die zweite Beplankung aus Montagegründen oft nur konstruktiv angesetzt.
Große Wandlängen sollten generell bevorzugt werden, da sie die zu verankernde Zugkraft deutlich reduzieren können. Wände mit großen Öffnungen, wie Türen oder Fenster, dürfen jedoch nicht in ihrer Gesamtheit als aussteifend angesetzt werden. Stattdessen können wie in Bild 5 einzelne Teilscheiben angesetzt werden, die jeweils als eigenständige Scheiben betrachtet werden müssen. Jede Teilscheibe erfordert einen Zuganker am Anfang und am Ende, um die Last ordnungsgemäß abzuleiten. Du willst wissen, was du bei der Verankerung bei Wandscheiben alles beachten musst? Dann schau doch bei diesem Artikel vorbei.
Die Lastverteilung auf die Teilscheiben kann anhand der jeweiligen Wandlängen erfolgen. Wichtig dabei ist, dass die in das Rähm eingeleitete Last nicht unterbrochen wird oder, falls nötig, mit einem zug- und druckfesten Stoß verbunden ist.
Bild 5: Verankerung einer geteilten Wandscheibe nach [2]
Wie wird die Aussteifungslast auf die einzelnen Wandscheiben verteilt?
Hierfür möchten wir dir zwei Methoden zur Lastverteilung vorstellen. Allgemein wird die Deckenscheibe als biegestarr angenommen, was bedeutet, dass sie bei horizontaler Belastung in ihrer Ebene nur geringfüge oder keine Biegeverformungen aufweist. Es geht hierbei nicht um vertikale Lasten, die senkrecht zur Platte wirken und zu einer Durchbiegung führen.
Was muss ich bei der Annahme einer starren Deckenscheibe beachten? In der Praxis hat man keine durchgehende, monolithische Scheibe, sondern elementierte Deckenscheiben, die aus Herstellungs- und Montagegründen in Einzelteilen ausgeführt werden. Um dennoch das Wirkprinzip einer starren Scheibe zu erzielen, müssen die einzelnen Elemente miteinander verbunden werden. Bei BSP-Decken (Brettsperrholz) gelingt dies beispielsweise durch Kreuzverschraubungen. Bei Holztafeldecken werden die Elemente durch die Anbringung eines Stoßholzes und die Verklammerung überlappender OSB-Beplankungen miteinander verbunden. Bild 6: Schubverformung einer Deckenscheibe |
Einfeldträger-Methode
Vereinfacht kann die Deckenscheibe als Träger betrachtet werden, der an den Positionen der Wände Auflager besitzt. Dabei liegt die Deckenscheibe auf mehreren Wänden, also Auflagern, auf. Aus der technischen Mechanik ist bekannt, dass bei einem Durchlaufträger an den Zwischenauflagern, also den Innenwänden, Stützmomente entstehen und die Querkraft ungleich verteilt ist. Da die Deckenscheibe jedoch nicht monolithisch ausgeführt ist, sondern aus mehreren, nachgiebig verbundenen Elementen besteht, kann sie als schubweich betrachtet werden (vgl. Bild 6). Diese Schubweichheit bewirkt, dass sich die Deckenscheibe eher wie ein Einfeldträger verhält. Die Belastung der Wände richtet sich dann nach deren Lasteinzugsbreite wie in Bild 7 dargestellt. Dadurch können besonders die Innenwände stärker beansprucht, da sie unabhängig von ihrer Länge eine doppelt so große Einzugsfläche aufweisen.
Bild 7: Verteilungsmethode "Einfeldträger" nach [1]
Wandlängen- bzw. Wandsteifigkeits-Methode
Bei dieser Methode wird die Last proportional zur Wandsteifigkeit verteilt, wobei die Wände als gedankliche Federn (Bild 8) betrachtet werden, deren Federsteifigkeit der Steifigkeit der Wand entspricht. Da die Wandsteifigkeit proportional zur Wandlänge ist (also eine Verdopplung der Wandlänge führt zu einer Verdopplung der Wandsteifigkeit), ist es bei einheitlichen Wandaufbauten ausreichend, nur die Wandlängen zu betrachten.
Bei dieser Methode erfahren alle Wandscheiben die gleiche Schubbeanspruchung. Das liegt daran, dass die Kopflast zwar proportional zur Wandlänge verteilt wird, bei der Berechnung des Schubflusses jedoch die Kopflast wieder durch die Wandlänge dividiert wird.
Wichtig bei dieser Methode: Werden Wände aus unterschiedlichen Materialien verbaut, wie zum Beispiel Holztafelwände und Brettsperrholzwände, darf die Lastverteilung nicht mehr vereinfacht anhand der Wandlänge erfolgen. In diesem Fall muss die tatsächliche Steifigkeit der einzelnen Wände ermittelt werden, um eine korrekte Aufteilung der Last zu gewährleisten.
Bild 8: Verteilungsmethode "Wandlängen" nach [1]
Was muss bei den Verteilungsmethoden noch berücksichtigt werden?
Bei den beiden dargelegten Verteilungsmethoden wird von einer annähernd symmetrischen Anordnung der Wandscheiben im Grundriss ausgegangen. In modernen Grundrissen, die häufig asymmetrisch gestaltet sind, muss jedoch zusätzlich ein Torsionsmoment der Decke berücksichtigt werden, das durch geometrische Exzentrizität entsteht und schematisch in Bild 9 dargestellt ist. Dieses Torsionsmoment führt nicht nur zu einer zusätzlichen Belastung der Wandscheiben in Windrichtung, sondern auch zu einer Beanspruchung der Wände, die senkrecht zur Windrichtung stehen. Daher ist es unverzichtbar, dieses Moment in die Berechnung einzubeziehen.
Die Kopflast der Wandscheiben setzt sich dann aus zwei Komponenten zusammen: der Windlast, die je nach Verteilungsmethode auf die Wände parallel zur Windrichtung verteilt wird, und einem Zusatzanteil, der aus dem Torsionsmoment resultiert und von der Lage der Wände im Grundriss abhängt.
Bild 9: Torsionsmoment bei unsymmetrischer Wandverteilung im Grundriss nach [1]
Wusstest du warum die Anordnung von Wandtafeln eine wichtige Rolle spielt? Wie wir bereits gesehen haben, führt eine unsymmetrische Anordnung der Wände im Grundriss zu einem Torsionsmoment, welches zu einer erheblichen Zusatzbelastung der Wände führen kann. Besonders kritisch und ungünstig ist dies in Erdbebengebieten. Erdbebensicheres Bauen fängt daher schon bei der Planung an! |
Theorie vs. Baupraxis
In der Praxis weichen theoretische Modelle oft von der Realität ab. Deshalb ist es für Statiker und Bauingenieure entscheidend, nicht nur die Theorie hinter einem ingenieurmäßigen Modell zu verstehen, sondern auch zu prüfen, ob sie im Holzbau praktisch umsetzbar ist. Konkret bedeutet das in diesem Fall: Alle Wände, welche zur Aussteifung herangezogen werden, müssen auch tatsächlich Lasten aus der Deckenscheibe erhalten. Sollte es durch Öffnungen, wie etwa einen Treppenaufgang, zu Unterbrechungen in den Deckenfeldern kommen, muss dennoch sichergestellt werden, dass in Wände ohne direkte Deckenanbindung weiterhin Lasten eingeleitet werden können.
Key Take-aways:
Die Windlast wird von der angeströmten Außenwand in die Deckenscheibe eingeleitet und anschließend auf die darunterliegenden Wandscheiben verteilt. Eine kraftschlüssige Verbindung zwischen Decke und Wand ist dabei unerlässlich.
Nur die Wände, die parallel zur Anströmrichtung angeordnet sind, tragen zur Lastabtragung bei.
Aufgrund der schubweichen Eigenschaften der Deckenscheibe kann diese bei der Einfeldträger-Methode als Einfeldträger betrachtet werden, was zu einer erhöhten Belastung der Innenwände führt, unabhängig von deren Länge.
Bei der Verteilungsmethode nach Steifigkeit bzw. Wandlänge wird die Kopflast proportional zur Länge der Wände verteilt.
Wichtig: Bei unsymmetrischer Anordnung der Wände im Grundriss müssen geometrische Exzentrizitäten berücksichtigt werden, welche zu einer Zusatzbelastung der Wände führt.
Wir empfehlen dir als weiterführende Literatur zu dieser Thematik die Grundlagenbücher von Colling [1] sowie von Colling und Janßen [2]. Suchst du noch nach weiterer interessanter Literatur zum Holzbau? Dann schau doch bei diesem Artikel vorbei.
Quellen
[1] François Colling; Aussteifung von Gebäuden in Holztafelbauart - Grundlagen, Beanspruchungen, Nachweie nach DIN und EUROCODE, 1. Auflage, November 2011
[2] François Colling, Peer Janßen; Aussteifung von Gebäuden in Holztafelbauart - Nach Schubfeldtheorie und erweitertem Schubfeldträger-Modell, 3. Auflage, September 2021